Verloren wie Tränen im Regen – Cyberpunk Ambient Music

Cyberpunk, ich möchte das ihr das wisst, war nicht immer das Videogame des polnischen Entwicklerstudios CD Projekt Red, das erst als großer Fail released wurde, sich aber jetzt gesund patchen konnte. Cyberpunk ist vielmehr ein Subgenre der Science Fiction. 

High Tech, Low Life

Als sein literarischer Vater gilt William Gibson, der für die Kurzgeschichte Burning Chrome (1982) Begriff und Konzept des Cyberspace erdachte. In seinem Debütroman Neuromancer (1984) komplettierte er seine Vision einer nicht fernen Zukunft. Mega-Cities, Neonlicht, mieses Wetter, Kybernetik und Computernetzwerke. Alles etwas schmierig, alles kriminell. Gibson warf der etablierten Science Fiction mit ihren kleinen grünen Männchen und den Prinzessinnen von fernen Planeten eine Hand voll Dreck ins Gesicht und holte sie aus der Ferne des Weltalls zurück auf die Erde. Seine Antihelden sind Hacker, Underdogs, Outsider, die sich gezwungen sehen, gegen die Gesellschaft in Armut zwingende Großkonzerne in die digitale Schlacht zu ziehen. Das verleiht dem Ganzen eine unübersehbare politische wie soziologische Komponente und macht den Cyberpunk damit auch für Leser und Leserinnen interessant, die hinter dem Begriff Science Fiction nur Star Wars erwarten. (Und der Vollständigkeit halber, Star Wars ist nicht Sci-Fi, sondern Fantasy.)


Unser Autor René ist selbst Musiker und passionierter Pop-Fan. Als etwas älteres Semester musste er von Boybands in Baggy Pants über Grunge bis K-Pop schon so einiges mitmachen. In seiner Kolumne „riffs & rants“ blickt er für uns mehr oder weniger regelmäßig auf neue Musik, Trends und Pop-Phänomene.


Filmisch gehen die Pionier-Credits an Ridley Scotts ’82er Film Blade Runner, der zunächst neben E.T., dem echt netten Alien, an der Kinokasse baden ging, aber über die Jahre sein Publikum fand und heute als richtungsweisendes Meisterwerk anerkannt ist. Ich sah ’82 auch E.T. im Kino, nicht Blade Runner, aber ich war erst acht. Blade Runner ist ein Film noir par excellence. Wir haben den wortkargen Ermittler, die Femme Fatale, Düsternis, einen Kriminalfall, nebulöse Strippenzieher und Drama, Drama, Drama. Der feine Unterschied zu seinen cineastischen Vorbildern: Harrison Ford jagt in seiner Rolle als Rick Deckard Replikanten, aus dem Ruder gelaufene Androiden, die keine Lust haben, das für sie vorhergesehene Schicksal kampflos hinzunehmen, nämlich sterben. Wenn du jetzt denkst, wow, das ist deep, daraus ergeben sich ja haufenweise Fragen über Leben, Sterben, Menschlichkeit, liegst du goldrichtig. Weshalb der für den Film Ideen gebende Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? von Philip K. Dick aus dem Jahre 1968 nicht als Erfindung des Cyberpunk gilt, konnte ich nicht herausfinden. Ich habe ihn auch nie gelesen.

Die späte Fortsetzung Blade Runner 2049 von 2017 – nicht andersherum – geht behutsam mit dem Denkmal um, auf das sie aufbaut. Regisseur Denis Villeneuve knüpft an die Geschichte des ersten Films an, wo es sinnvoll ist, eine neue Geschichte zu erzählen und nicht wie aktuell viel zu oft, um der Nostalgie willen. Und wie alle Filme von Villeneuve sieht er fantastisch aus (siehe Dune).

Die Japaner vereinnahmen das Genre auf ihre eigene, unverwechselbare Art in Mangas und Animes. Akira oder Ghost In The Shell, letzterer inzwischen auch ein nicht unumstrittener Realfilm mit Scarlett Johannson als Motoko Kusanagi, ist eine grelle, actiongeladene Variante des Cyberpunk in supersized, ebenso sehenswert, gleichzeitig weniger abgründig und dunkel.

Die Dunkelheit in Blade Runner verdanken wir nicht zuletzt dem Soundtrack von Evangelos Odysseas Papathanassiou (das sagen wir jetzt alle zusammen dreimal hintereinander), aka Vangelis, Keyboarder, Komponist und Produzent elektronischer Musik. Und was für ein Brett von einem Einstieg mutet der uns hier zu: Paukenschläge wie rollende Donner, Flammensäulen, die aus der Dunkelheit der Stadt unter uns in den Nachthimmel hinaufsteigen, ein klingender Akkord wie von einer verstimmten, elektronischen Zither, die ikonisch gewordenen Brass-Flächen, der Flug zu den mächtigen, die Stadt überragenden Gebäuden, Pyramiden durchsetzt von Lichtern. Dann der Schnitt auf das menschliche Auge, ganz nah, in dem sich all dies spiegelt. Die Opening Credits von Blade Runner sind in ihrer genialen Komposition aus Bild und Ton bis heute in Intensität, Schwere und Pathos unübertroffen.

Dass das Scharen von Menschen mit Synthesizern motiviert, Ähnliches schaffen zu wollen, ist nachvollziehbar. Ambient als Genre möchte ich hier nur erwähnen, das verdient einen eigenen Artikel an geeigneter Stelle. Nur soviel, hätte Brian Eno sich mit seiner Music for Airports durchgesetzt, unsere Welt wäre ein klein wenig schöner. 

Ich liebe es, meine Wohnung über den Dächern der Stadt in schummriges Licht zu tauchen, mein Ding zu machen und dabei vom Cyberpunk inspirierte Musik wirken zu lassen. Norihito Suda, Vishwas, Anfield oder Soular Order seien hier exemplarisch erwähnt für die unzähligen musizierenden Menschen (nehme ich zumindest an), die auf Spotify zu finden sind, wenn sie da jemand sucht – was offensichtlich nicht viele tun, schaue ich mir die meist nur zweistelligen Followerzahlen an. Soundtracks ohne Film, warme Flüsse aus Syntheshizern, keine Grooves, kein Ballast, zum Eintauchen in die Leere oder nach Innen schauen, den guten und schlechten Gedanken nachhängen oder einfach mal alles anzweifeln. Gute Dienste leistet mir dabei der Youtube-Channel Blade Runner Musikradio – Cyber-Soundscape, der zur feinen Auswahl an Interpreten/-innen auch noch eine stimmungsvolle Visualisierung bietet. 

Und vielleicht beim Lauschen einfach mal über folgenden Satz nachdenken:“Before you diagnose yourself with depression or low self-esteem, first make sure that you are not, in fact, just surrounded by assholes.” – William Gibson.

Autor:

René Grandjean

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