Träume in Neon

Mal angenommen, du bist 1974 geboren. Dann hast du wahrscheinlich so um 1980 aufgehört, die Hitparade der Schlümpfe zu hören und Popmusik im Radio für dich entdeckt. Dort begegneten dir unweigerlich Visage mit ihrem zeitlosen Masterpiece „Fade To Grey“, aber auch die Beatles, denn deren letztes Album Let It Be war 1980 gerade mal zehn Jahre alt – und klang dennoch neben Visage wie Musik aus längst vergangenen Zeiten. 

Wenn du 2024 Musik für dich entdeckst und dein großer Bruder dir was zehn Jahre Altes vorspielt, ist das Daft Punk (wenn dein Bruder cool ist) oder Avicii, und du bist fein damit, weil es klingt, wie das, was du kennst.


Unser Autor René ist selbst Musiker und passionierter Pop-Fan. Als etwas älteres Semester musste er von Boybands in Baggy Pants über Grunge bis K-Pop schon so einiges mitmachen. In seiner Kolumne „riffs & rants“ blickt er für uns mehr oder weniger regelmäßig auf neue Musik, Trends und Pop-Phänomene.


Zugegeben, diese Entwicklungen sind hier etwas simpel dargestellt, aber warum passiert in zweimal zehn Jahren einmal so viel und einmal so wenig? Wegen des Triumphs des Synthesizers. Erfunden viel früher, war er lange so groß und so teuer wie ein Kleinwagen, dafür aber viel komplizierter zu bedienen. Mit den Achtzigern wurde er bezahlbar, kleiner und veränderte die Musik grundlegend. Technische Innovation führte zur musikalischen Revolution.

Zwischen 2014 und 2024 ist eine Menge passiert, aber wenn es eine musikalische Revolution gab, habe ich sie verpasst. Technische Innovationen hingegen gab es viele. Es wurde unkompliziert und bezahlbar, Musik auf hohem Niveau am heimischen Rechner zu produzieren und zu veröffentlichen. War das endlich der Moment, auf den der Untergrund gewartet hat, die erfolglosen Nörgler im Keller, die verkannten Genies in den Garagen, jene, die Erfolg verdienen, aber die da oben lassen sie nicht, der Mainstream ist schuld, zeigen wir der Welt, wie es geht, Schluss mit Musik „Formel F“? Revolution?

Nein.

Es ist wie es ist. Wir haben einen potenten Rechner in der Hosentasche und spielen Candy Crush. Wir haben die Möglichkeit, der Musik ein neues Genre hinzuzufügen, und käuen wieder und wieder.

Dreamkid (Ryan Morris) sieht aus, wie sich Hollywood-Regisseure der frühen Neunziger die Kids der Achtziger vorstellen. Stirnband, Kajal um die Augen, schwarze Fingerlinge. So sitzt er vor der Kamera, im Hintergrund leuchtet ein Flamingo in Neonfarben. Und Instagram weiß, ich werde sie mögen, seine Synthpop-Version von „Smells like Teen Spirit“. Musik, die klingt, wie sich Menschen Musik der Achtziger vorstellen, wenn sie sie lediglich aus John-Hughes-Filmen, Vorabendserien und Videospielen kennen. Das ist ein Genre geworden, und man nennt es Synthwave (oder Outrun, Retrowave, Futuresynth, Chill- und Vaporwave sind auch nichts völlig anderes, aber das führt zu weit). Dreamkid komponiert digitale Scores für Filme, die in seinem Kopf gezeigt werden – mehr dazu erfahrt ihr bei seinen wirklich unterhaltsamen Social-Media-Auftritten, wo er auch mal vorm Haus von Familie Taylor aus E.T. herumgammelt. “It’s 1989, nobody ever noticed her at school but she just arrived at prom and everybody can’t believe how amazing she looks”, liefert uns Ryan die gewünschte Assoziation gleich mit. Das passt, aber darf ich nicht selbst entscheiden, welcher Film bei mir zu seiner Musik gezeigt wird? Außerdem ist das Beschriebene eine Szene aus Pretty in Pink, du Punk. Hörenswert ist Dreamkid dennoch. Wer Soundtracks der Achtziger mag, ist hier gut aufgehoben. Pads, Streicher, simple Beats und eingängige, süße Melodien. Aber halt alles digital. Die Achtziger klangen gut, weil sie analog waren. “Take Me On Tonight” featured Mason Musso von Metro Station. Ryans Singstimme klingt in etwa wie Tom DeLonge von Blink 182.

Tatsächlich werden als Kickoff für das Genre Synthwave das Game Grand Theft Auto: Vice City von 2002 genannt, einer meiner Lieblingsfilme Blade Runner von 1982 mit seinem Soundtrack von Vangelis, und Drive von 2011 mit Musik u.a. von den Chromatics, Desire, Kavinsky – besonders Letzterer einer der Großen des Genres. Tron: Legacy (Daft Punk forever!), John Carpenter und Stranger Things sind hiermit erwähnt. Mach dir dein eigenes Bild.

Es geht nicht nur um die Musik, aber wo tut es das schon? Die Szene feiert eigene Parties, kauft Unmengen an Retro-Merch, bringt eigene Stars hervor und ist mir in ihrer verspielten Nostalgie sehr sympathisch. Ein Lebensgefühl. Lassen wir eine Zeit so aufleben, wie sie ehrlich gesagt nie war. Nur im Kino. Dort bin ich der alte T-Rex im Jurassic Park. Meine Schweißbänder sind vierzig Jahre alt. Kommt in meine Stummelarme.

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