Neulich fiel mir auf meinem Weg durch die Stadt ein älteres Paar ins Auge. Er adrett mit Weste und Schiebermütze, eleganter Gehstock, sie im langen Kleid mit ausladendem Blumenmuster, Brigitte-Macron-Frisur. Sie standen vor einem Schild an einem altehrwürdigen Stadthaus, auf dem bis neulich noch irgendeine Anwaltskanzlei ausgewiesen war. Nun stand dort „Coworking Space”, und wenn ich die Szene und die aufgeschnappten Gesprächsfetzen richtig interpretiere, wussten die beiden nicht, was das bedeutet.
Wie fühlt es sich an, wenn die Welt dich abhängt?
Wenn Schilder in Sprachen auftauchen, die du nicht sprichst? Wenn Menschen einen Slang bevorzugen, der dich ausschließt? Wenn die “Sitten” verschoben werden? Besuchte mich mein Vater seinerzeit in der großen Stadt, fielen ihm die Augen aus dem Kopf, begegneten wir einem gleichgeschlechtlichen Paar. Ich weiß, mein Vater war für Liebe, er war einfach nur erstaunt und das ließ ich ihm. Die Zeiten ändern sich.

Unser Autor René ist selbst Musiker und passionierter Pop-Fan. Als etwas älteres Semester musste er von Boybands in Baggy Pants über Grunge bis K-Pop schon so einiges mitmachen. In seiner Kolumne „riffs & rants“ blickt er für uns mehr oder weniger regelmäßig auf neue Musik, Trends und Pop-Phänomene.
Erstaunt war man kürzlich vielerorts über die Band The Velvet Sundown. Kam nämlich raus, die sind von einer A.I. ausgespuckt. Deshalb fühlte sich manch hörende Person hinters Licht geführt. Ich war überrascht wegen des Aufrisses. Die Gorillaz sitzen ja auch nicht wirklich auf “Cracker Island”. Daft Punk haben sich am 09.11.99 nicht wirklich in Roboter verwandelt.
Popkultur lebt schon immer vom Fake. Selbst der durch Social Media gewährte Blick durchs Schlüsselloch, die vermeintliche Nähe zur kunstschaffenden Entität deiner Wahl, dem Objekt von Begierde und/oder Bewunderung, ist eine pure Illusion. Wer das Spiel beherrscht, wird dir lediglich zeigen, was du sehen sollst, wird es aussehen lassen, als wäre es beiläufig, real, authentisch. Alles Quatsch – na und? Wir schreien nach Wahrheit. Und dann?
Das Tolle an der Zukunft ist ja, dass sie nie da ist. Die Verschmelzung von Mensch und Maschine via Brillen, Uhren und Ringen hielt längst Einzug in den Alltag. Ich träume von einer Post-Spotify-App mit A.I.
Puls, Temperatur, Gehtempo – alles was Menschen so messen, um zu wissen, wie sie sich fühlen, würde sie abgreifen und uns situationsabhängig völlig individuelle Musik kreieren. Musik, die dich beruhigt, motiviert, was Romantisches oder etwas für mehr Konzentration. Dir in den Arsch tritt. Musik, die deine aktuelle Stimmung steigert oder dagegen arbeitet, wie du magst. Und wer weiß, vielleicht würde ein schöner Geist besonders berührende Klänge erzeugen. Und die machen dann Menschen zum Popstar statt einem perfekten Körper, was immer das sein mag. Und du schreibst deiner geliebten Person in einsamer Nacht: “Hör mal, meine A.I hat das hier komponiert, als ich von dir träumte.“
Falls es demnächst dazu kommt, hast du es hier zuerst gelesen.
Bis es soweit ist, muss der Mensch die Maschine weiter bedienen. Mit viel Liebe tut dies Goodbye Babylon. Dazu gibt es kein Schlüsselloch, durch das wir schauen dürfen. Außerdem einen Namen, der im Netz von allerlei Größerem überschattet wird. Zufall oder Unvermögen? Vielleicht nur ein liebevoll gepflegtes Hobby eines freundlichen Familienvaters mit 9-to-5-Job. So wie andere Blockflöte im Stuhlkreis spielen.
Das Video ist heimelig und erfrischend unaufgeregt. Ein Plus, diese überambitionierten Schnurrbartträger mit ihrer hysterischen Energie strengen wirklich an. Dass die letzte Single von Goodbye Babylon “One More Time” heißt, macht die Recherche nicht weniger unmöglich. Finden wir uns damit ab, dass wir nichts wissen, nichts haben, nur die Musik. Und die ist schmusiger Synthiepop mit cheesy Harmonien. Gut vorstellbar, dass die Post-Spotify-Musik-A.I. aus meinen Daten demnächst Ähnliches programmiert. Dann wüsste ich, ich fühle mich gut. Wie würde deine Musik klingen?
Autor:
René Grandjean
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