GAVRIIL: „Blind zu sein muss kein Hindernis sein – als Musiker kann es sogar ein Vorteil sein“

Was bedeutet es für das eigene Leben, wenn man innerhalb von einem Jahr fast vollständig erblindet? Wer mit GAVRIIL spricht, hat das Gefühl: gar nicht so viel. Er macht weiter Musik, veröffentlicht eigene Songs, gibt Konzerte und studiert in Köln. In seiner Musik verschmelzen Soul, griechische Folklore und Rap zu einem selten gehörten Sound, Ende November erscheint seine neue Single “GOTT VERGIB MIR”. Wir haben ihn in seiner Wohnung zum Interview getroffen.

Musik unterm Radar: 2017 wurde bei dir die Krankheit Lebersche Hereditäre Optikus-Neuropathie, kurz LHON, festgestellt. Wie hast du die Zeit rund um die Diagnose erlebt? Welche Rolle hat die Musik gespielt?

GAVRIIL: LHON ist eine genetisch bedingte, seltene Augenerkrankung, die meine Mitochondrien in den Nervenzellen betrifft. Die Ärzte waren sich von Anfang an zu 99 Prozent sicher, dass es LHON ist. Die endgültige Diagnose kam dann nach einem neunstündigen Untersuchungsmarathon. Ich habe versucht, zu Beginn cool zu bleiben, um für meine Familie da zu sein. Natürlich waren alle im Schock und haben geweint. Ich selbst habe mir erst erlaubt zu weinen, als ich alleine war.

Ich selbst habe es erst nach Monaten und Jahren richtig verarbeitet. Innerhalb eines Jahres ist mein Sehvermögen von ehemals 180 Prozent – was also sehr überdurchschnittlich war – auf ungefähr drei Prozent gesunken. Per Gesetz bin ich heute blind.

Ich habe damals mit meiner Großtante gesprochen, die die gleiche Erkrankung hat. Sie hat gesagt: Versuch, noch so viele schöne Sachen zu sehen, wie möglich. Ich habe das Jahr dann genutzt, um Urlaub zu machen und mir einige Länder anzuschauen. Musik war zu dieser Zeit ein großer Bestandteil. Sie war für mich immer wie eine Art Therapie, egal ob man schreibt oder hört.

Hat sich dein Zugang zur Musik durch deine Sehbeeinträchtigung verändert? 

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ALICE DEE & Yeshe: Von der Straße bis zum Mond

Mit „Viel weiter“ liefern ALICE DEE und Yeshe ein musikalisches Porträt von Berlin-Kreuzberg, das UK Garage, HipHop und urbane Lebensrealität vereint. Produziert von Merlin verbindet der Track elektronische Beats mit präzisen Rap-Parts, in denen beide MCs ihre Perspektiven auf Herkunft und Alltag einbringen. Der Song greift Bilder auf, die an die energiegeladene Euphorie der frühen 2010er-Cloud-Rap-Ära erinnern.

ALICE DEE rappt von Aufbruch, Geschwindigkeit und dem Drang, das eigene Leben maximal auszukosten: „Hol mir die Welt bis ans Ende, let’s go. Ey, bester Tag, ich gehe road. Ich drück aufs Gas, hebe ab bis zum Mond.“ Es ist der Sound einer Haltung, die den Blick nach vorn richtet. Yeshe ergänzt diese Energie mit einer ebenso direkten Perspektive: „Es wird kalt hinterm Reißverschluss. Schieb meinen Arsch durch die alten Straßen. Es wird jetzt heiß in meiner Hood. Und man fragt sich, worauf wir noch warten.“ Seine Zeilen verorten den Song im Hier und Jetzt, und zeigen, dass etwas ins Rollen kommt. Gemeinsam entsteht ein Spannungsfeld aus Fernweh und Verwurzelung im eigenen Viertel.

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Hanniou: deutsches Pop-Phänomen mit Gänsehautfaktor

Die Fangemeinde von Hanniou in der deutschen Popszene wächst stetig. Und das zu recht: Sie überzeugt mit klaren Texten voll emotionaler Direktheit und einer tollen Stimme. Musikalisch bewegt sie sich zwischen reduzierten Klavierarrangements und eingängigen Pop-Momenten, in denen sie Themen wie Herzschmerz, Loslassen und Selbstfindung verarbeitet.

Im Juli erschien ihre EP you’re just a boy, die in fünf Songs diese Themen zusammenführt. Die Fokussingle „i gave you the world (but you didn’t want it)“ ist präzise und ohne Schnörkel erzählt. In „just a boy“ feiert sie Selbstliebe und das Ende romantischer Illusionen, während „i hate this city“ die Stadt zur Projektionsfläche unerwünschter Erinnerungen macht.

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FRACHILD: Wiener Indie-Folk zeigt den Zauber im Loslassen

FRACHILD machen Musik, die nah an den Gefühlen bleibt. Die vierköpfige Band aus Wien kombiniert melancholische Gitarren mit drei markanten Stimmen und bewegt sich zwischen Indie und Alternative. Was ihre Songs auszeichnet, ist vor allem eine spürbare Verletzlichkeit – aber ohne Kitsch. Vielmehr sind da vier Freund*innen, die ihre Unsicherheiten nicht verstecken, sondern gemeinsam in Musik übersetzen.

Der Song „Ages“ fängt dieses Gefühl besonders gut ein. Die Single erzählt von der Verbindung zwischen Geschwistern: eine Beziehung, die Halt geben kann, selbst wenn um einen herum alles ins Wanken gerät. In ruhigen Tönen erinnert „Ages“ daran, dass es okay ist, Lasten irgendwann loszulassen: „When your shoulders hurt, then always drop your backpack.“

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Dressed Like Boys: Pop kann auch Rebellion

Zum 56. Jahrestag der Stonewall Riots veröffentlichte Dressed Like Boys im Juni mit „Stonewall Riots Forever“ ein queeres Statement. Der belgische Musiker Jelle Denturck schafft mit zartem Art-Pop und tiefgreifender Lyrik ein musikalisches Denkmal. Er ist gleichzeitig persönlich und politisch – und beweist damit zwar Haltung, braucht aber keinen Pathos.

Dressed Like Boys ist das Soloprojekt von Jelle Denturck, bekannt als Sänger der belgischen Indie-Rock-Band DIRK. Während bei DIRK. auf kantigen Gitarren gebaut wird, klingt Dressed Like Boys wie ein melancholischer Sonntagmorgen mit David Bowie und Nina Simone im Ohr. Statt lautem Protest ein Piano, ein Cello und ein flammender Text.

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Carla Ahad: Die Stimme des jungen Hauptstadt-Indie-Pop

Mit mehr als acht Millionen Spotify-Streams zählt Carla Ahad jetzt schon zu den spannendsten jungen Stimmen der deutschen Musikszene. Seit 2021 hat sie über 20 Singles veröffentlicht und liefert konstant neue Musik.

Der Festival-Sommer 2025 hat für Carla Ahad längst begonnen – doch bevor es in die sommerliche Release-Pause geht, hat die Musikerin mit „Ich könnt ans Meer“ ihren ganz eigenen Sommerhit herausgebracht. Ein musikalisches Polaroid zwischen Stadtleben und Sehnsucht. Her mit den lauen Abenden, offenen Fenstern, und einfach mal die kleinen Dinge feiern! Mit einer Mischung aus urbaner Leichtigkeit und Melancholie singt Carla von Wetter, Wolkenbildern und Momenten, die wie Zitrusfrüchte prickeln.

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Bedroom June: wie eine Erinnerung, die nicht gehen will

Manchmal reicht ein einziger Satz, um all das zu sagen, was zu spät gesagt wurde. Bedroom June schafft das mit ihrer Single „How Much I Wanted You“ von ihrer Debüt-EP auf ganz besondere Weise. Der Song hat ein bisschen was von einem Tagebucheintrag, den man eigentlich nie veröffentlichen wollte.

„How Much I Wanted You“ ist ein Eingeständnis über den Schmerz, jemanden erst wirklich zu vermissen, wenn er nicht mehr da ist. Mit verletzlicher Stimme fängt Bedroom June eine Mischung aus Sehnsucht, Reue und dem Ringen um Selbstverständnis ein. Der Track beginnt sanft und zurückhaltend, bevor verzerrte Gitarren und treibende Drums die innere Zerrissenheit und Überforderung hörbar machen. Vokale Harmonien im Refrain schaffen einen Moment der Ruhe, ehe die Intensität des Songs in einem emotionalen Ausbruch endet.

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softboy ivo: Zwischen Trap und Tränen

Mit Spiele ohne Sieger liefert softboy ivo ein Tape, das zwischen elektronischem Rauschen, introspektiven Trap-Sounds und emotionaler Offenheit schwebt. Der Leipziger Künstler stellt Fragen, wo andere Statements abgeben – und klingt dabei mal melancholisch verloren, mal selbstironisch wach. Produziert wurde das komplette Projekt von Outakey, der mit glasklarer Produktion und viel Raum für Atmosphäre die perfekte Bühne für ivo’s fragile und dennoch bestimmte Stimme schafft.

Singles wie „Baby G“ oder das Feature mit Dea Bbz auf „Secret Service“ haben schon vor Release klargemacht: softboy ivo will sich nicht entscheiden – und muss es auch nicht. Club oder Kopf? Ego oder Zweifel? Synth oder Sample? In seinen Songs verschwimmen Genregrenzen, Emotionen und Realitäten.

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Miss BunPun: Süß, laut, politisch

Miss BunPun ist aus der Wiener HipHop- und R’n’B-Szene nicht mehr wegzudenken. Ihr Sound erinnert an Hits der 2010er Jahre: eingängige Hooks, smoothes Rappen und Vocals, die im Ohr bleiben. Doch hinter den catchy Beats steckt noch mehr – klare politisch Botschaften und eine feministische Haltung sind für sie unverzichtbar.

Im Mai hat sie mit ihrer neuen Single „Zuckerschock“ ein neues Kapitel aufgeschlagen: Erstmals rappt Miss BunPun auf Deutsch. Auf den ersten Blick klingt der Track wie ein süßer Flirt mit Pop-Vibes und Club-Feeling. Doch wer genauer hinhört, entdeckt ein selbstbewusstes queerfeministisches Statement mit Charme und Swagger. „Zuckerschock“ ist ein tanzbarer Track, der Spaß macht und gleichzeitig Empowerment feiert.

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ENGIN: Musik zwischen zwei Welten

Der Sound von ENGIN mischt moderne Rockmusik mit alten türkischen Klängen. Man hört Einflüsse von psychedelischer Musik (wie bei Pink Floyd), aber auch von türkischen Künstlern aus den 60er- und 70er-Jahren wie Barış Manço oder Cem Karaca. Das ergibt einen spannenden Mix aus E-Gitarren, groovigen Rhythmen und einer ganz eigenen Stimmung, die mal ruhig, mal tanzbar ist.

Die Mannheimer Band macht Musik, die nicht nur gut klingt, sondern auch etwas erzählt. Der Song „Messer“ zum Beispiel thematisiert zweisprachig auf Deutsch und Türkisch Themen wie Trennung, Wut und Verletzlichkeit. Dabei geht es nicht nur um Liebeskummer, sondern auch um Identität, Zugehörigkeit und das Gefühl, zwischen zwei Kulturen zu leben. Aber mit einem eigenen Twist: Deutsch und Türkisch verschmelzen in den Lyrics zu einem emotionalen Ausdruck, wie ihn eine einzelne Sprache vielleicht gar nicht leisten könnte.

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