Neulich, am vermutlich heißesten Tag dieses Jahres lief ich vom Bahnhof durch die City, vorbei an dem neuen Bibliotheksgebäude, vor dem die Stadt unbequeme Bänke installiert hat, auf denen niemand sitzen kann, dessen Körper nicht durch eine Laune der Natur oder widrige Umstände die Form eines Geodreiecks hat. Oder du machst es wie der junge Mann, der mir auffiel, oberkörperfrei in der Gluthitze, schlägst der amtlich verordneten Unbequemlichkeit mit Körperspannung ein Schnippchen und wirst zur Hypotenuse.
Der Typ, lass ihn sechzehn bis achtzehn Jahre jung gewesen sein, war smart, blond, drahtig, Boyband-hübsch, trug eine wirklich ausgefallene Schlaghose und – ein Fleck auf einem schönen Gemälde, ein Makel in der jugendlichen Reinheit – er rauchte einen Joint.

Unser Autor René ist selbst Musiker und passionierter Pop-Fan. Als etwas älteres Semester musste er von Boybands in Baggy Pants über Grunge bis K-Pop schon so einiges mitmachen. In seiner Kolumne „riffs & rants“ blickt er für uns mehr oder weniger regelmäßig auf neue Musik, Trends und Pop-Phänomene.
Aus einer Box dicht bei ihm erklang „Only Love Can Break Your Heart“ von Neil Young. An den Song hatte ich lange nicht gedacht, und in Gänze könnte man diese Szene und das Gehabe als das abtun, was es wahrscheinlich war: die Zurschaustellung von Schmerz, Leid, Kummer. Was okay ist!
Fluch und Segen – trotz meiner fortgeschrittenen Lebenszeit habe ich immer noch ein großes Herz für Coming-of-Age-Tragödien. Oder anders gesagt, ein wesentlicher Anteil meines jüngeren Selbst rumort noch in mir und ich fühlte solidarisch mit dem jungen Mann mit, oder jedenfalls mit dem, was ich mir ausgedacht hatte, was er fühlt (a.k.a. Projektion).
Typ, dachte ich, du denkst vielleicht gerade, du bist in der Hölle, dein Herz ist gebrochen, die Welt ist gegen dich, du bist der Rebell und lässt dich nicht unterkriegen. Alles cool. Vielleicht denkst du weiter, dass all das irgendwann endet, dass alles besser wird, sogar gut, dass es ein Happy End gibt und alles rundgelutscht sein wird und plätschert. Weißt du was? Nein. Und was nicht alles schräg laufen kann!
Ich habe gehört, dass es Menschen gibt, die Jahre in Dunkelheit verbringen. Nicht in der eigenen vertrauten, das ist ja berechenbar. Sie verlaufen sich in der finsteren Fantasie eines anderen Menschen, der alles um sich strategisch und zielstrebig in den Dreck tritt, um sich nicht minderwertig und unterlegen fühlen zu müssen. Solche Leute gibt es. Was für eine traurige Existenz muss das sein. Wirst du gefangen, kommt unausweichlich der Tag, an dem du verstehst, dich befreist und gehst. Das tut dann schrecklich weh. Aber wenn du weißt, das ist keine Liebe, das ist Konditionierung, hältst du es aus. Wirklich! Und dann lässt der Schmerz nach und du erkennst, dass viele Menschen wunderbar sind und du lernst, die Arschlöcher zu identifizieren, auf eine Meile Entfernung, sagst Nein, feierst dich und plötzlich machen all die Kalendersprüche und das Gelaber aus der Yogastunde Sinn. Wie zum Beispiel, dass das Licht dort hinein scheint, wo die Risse sind.
An einem herrlich unaufgeregten Tag erscheint vielleicht eine Silhouette im Türrahmen, die Sonne im Rücken. Du hast sie vielleicht schon mal gesehen, aber nie so. Vielleicht kocht sie ein Curry für euch und spielt dir ihre Lieblingssongs vor. So gut wie alle davon sind von bärtigen Männern mit akustischer Gitarre, es klingt alles etwas gleich, und sie gerät dabei völlig aus dem Häuschen, singt, wibbelt mit den Armen, zitiert Texte mit einem energischen Flackern in den blauen Augen.
Vielleicht ist ja etwas von Rory Charles dabei und du sagst, Rory, so heißt doch die Tochter von Lorelai, und sie sagt ja, aber das hier ist das Soloprojekt des Sängers von The Age Of Glass aus Manchester. Sie erzählt dir von ihren Fangirl-Momenten mit Rory Charles in Hamburg, wo er regelmäßig Konzerte im Birdland spielt und du erwiderst, dass das ein schöner Name für einen Club ist.
Straßenmusik macht er auch. Dass manche seiner Songs wie Oasis-Outtakes klingen, tut der Sache keinen Abbruch, Rorys Art zu spielen und zu singen, ist intensiv und einnehmend, seine Ausstrahlung lausbubenhaft, wenn diesen Begriff noch irgendjemand versteht. Ein semi-moderner Troubadour. Gitarre, hier und da etwas Klavier, Geigen, dezente Unterstützung durch eine Band aus dem Off. Doch richtig stark ist Rory allein, Stimme, Gitarre und eine Menge Ausdruck. Verträumte kleine Songs, die klangliche Entsprechung des in die Ferne Starrens.
Wer weiß, vielleicht bist du am Ende dieses Tages mit Curry und Musik verliebt, in Rory, in die Person mit den blauen Augen, in dich selbst und wie du bist, wenn sie bei dir ist. Wer dazu den Soundtrack liefert, den nenne ich Freund. Und, junger Mann mit Joint, ich glaube, es ging in diesem Text gar nicht um dich.
Autor:
René Grandjean
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